Türsteher “Soziale Herkunft”: Die vergessene Dimension in der Arbeitswelt
Ein Gastbeitrag von Martin Seiler
Eine gute Qualifizierung, Talent, und Motivation – all dies sind wertvolle Eigenschaften, die einem Menschen dabei helfen können, beim anstehenden Bewerbungsgespräch zu überzeugen oder die nächste Karrierestufe aufzusteigen. Die soziale Herkunft kann eine Eintrittskarte sein – für einige bleiben aufgrund ihrer sozialen Herkunft jedoch auch viele Türen verschlossen. Denn die eingangs genannten Eigenschaften werden häufig erst “gesehen”, wenn der soziale Status mit den Kriterien des*r Entscheider*in oder des Unternehmens übereinstimmt. Dieser Ansatz verhindert für Menschen aus eher schwachen sozialen Verhältnissen den Zugang zu einer bestmöglichen Qualifizierung und damit die Teilhabe am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft. Wie können Unternehmen hier den entscheidenden Unterschied machen? Wie hat es die DB gemacht? Ein Bericht von Martin Seiler.
Was genau ist die soziale Herkunft?
Die soziale Herkunft eines Menschen bezieht sich auf den Habitus, Bildungs-, Berufs- und Einkommensstatus der Eltern. Diese und weitere Aspekte können den späteren Werdegang eines Menschen beeinflussen. Abhängig von der sozialen Herkunft der Eltern bzw. des familiären Umfelds, wachsen Menschen mit unterschiedlichen, klassenspezifischen Lebensstilen und damit einhergehenden Privilegien bzw. Benachteiligungen auf. Fakt ist:
Bildungserfolg und Aufstiegschancen hängen in Deutschland noch immer stark von der sozialen Herkunft ab
Und dies führt im Umkehrschluss zu Diskriminierungserfahrungen, die Chancengerechtigkeit verhindern. Studien belegen, dass die soziale Herkunft oft mehr Einfluss auf den eigenen späteren Lebensweg hat als zum Beispiel Talent und Anstrengung. Der aktuelle Hochschulbildungsreport zeigt, dass in Deutschland 74% der Kinder aus Akademikerfamilien studieren, während es bei Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien nur 24% sind. Ganze 72% der Personen, die ihr Studium aufgrund von Problemen bei der Studienfinanzierung abbrechen, kommen aus Nicht-Akademikerfamilien. Und auch beim Berufseinstieg erfahren Menschen aus benachteiligten Haushalten weitere Diskriminierung. So werden beispielsweise viele Praktika nicht ausreichend entlohnt, was dazu führt, dass Menschen mit finanziell schlechter gestelltem Hintergrund es sich schlichtweg nicht leisten können, solche zu absolvieren.
Vielfalt bedeutet Akzeptanz, aber auch aktive Integration
Erwiesenermaßen führt mehr Diversität in Teams zu mehr Innovation und besseren Ergebnissen. Ich bin davon überzeugt, dass wir diverse Ideen aus allen Teilen der Gesellschaft brauchen, um nicht nur die Deutsche Bahn, sondern auch Deutschland zukunftsfähig aufzustellen.
Diversität bedeutet für mich eine offene Gesellschaft, in der jeder Mensch nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv integriert wird. Um das zu schaffen, müssen wir Bewusstsein für bestehende Benachteiligungen schaffen, Haltung zeigen und aktiv gegen die bestehende Chancenungleichheit in unserer Gesellschaft vorgehen. Wie haben wir das bei DB gemacht?
Bildung und das Einkommen der Eltern sollen bei der Bahn keine Rolle spielen
Jedem Menschen – unabhängig von Faktoren wie Geschlecht, Herkunft oder Religion – in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und zu fördern, liegen der DB und mir sehr am Herzen. Ich hatte das Glück, in meinem Leben von Leuten gefördert zu werden, die Potenzial in mir gesehen und an mich geglaubt haben. Nun befinde ich mich in einer Position, in der ich selbst anderen Perspektiven ermöglichen,
Türen öffnen und die mir zuteilgewordenen Chancen zurückgeben kann.
Bei der Deutschen Bahn haben wir bereits zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die in/direkten Erschwernisse für Menschen aus sozial benachteiligten Herkünften zu verringern und aktiv Diversität und Chancengleichheit im Konzern zu fördern.
Das Wichtigste: Wir haben im ersten Schritt unser eigenes Verständnis von Vielfalt um die Dimension „Soziale Herkunft“ erweitert
Um so eine Verankerung in der Konzernstrategie und Verzahnung mit Prozessen innerhalb der DB zu ermöglichen. Ein wichtiger Schritt bei der DB war unter anderem, beim Recruiting-Prozess auf das Anschreiben zu verzichten. Stattdessen legen wir den Fokus verstärkt auf soziale Kompetenzen und Soft Skills. Neben den klassischen Ausbildungsberufen und Jobs für Fachkräfte und Akademiker*innen bieten wir außerdem sogenannte „Anlernberufe“ an, die auch eine Weiterentwicklung im Konzern ermöglichen. Diese Range an Berufen gibt Raum für Menschen mit den unterschiedlichsten Bildungshintergründen, Kompetenzen und Interessen. Zudem ist die DB Teil der Initiative „Fair Company“, welche gerechte Bedingungen für den Berufseinstieg junger Menschen fördert.
Wenn wir in Zukunft wahre Chancengleichheit erreichen wollen, müssen wir heute die Weichen stellen
vor allem auch für die jüngeren Generationen. Genau hier setzen unsere DB-Projekte „Chance Plus“ und „Scoring Girls Ausbildung“ an. Mit unserem Berufsvorbereitungsprogramm „Chance Plus“ unterstützen wir seit 2004 in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit Ausbildungssuchende aus finanzschwachen und/oder bildungsferneren Haushalten beim Start in eine Berufsausbildung oder beim direkten Jobeinstieg. Im Programmzeitraum von sechs bis zwölf Monaten werden die Teilnehmenden intensiv auf eine Berufsausbildung bei der DB vorbereitet. Neben internen Ansprechpartner*innen werden sie auch von qualifizierten Sozialpädagog*innen des Bildungsträgers ZukunftPlus e. V. begleitet. Das Programm schließt mit einem IHK-Zertifikat zur betrieblichen Einstiegsqualifizierung ab und bietet allen sehr gute Chancen für den Einstieg ins Berufsleben.
2020 haben wir gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation HAWAR.help das Projekt „Scoring Girls Ausbildung“ ins Leben gerufen, um junge Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, Gesellschaftsschichten und Glaubensgemeinschaften bei ihrem Einstieg in die Berufswelt zu unterstützen. Das Programm bietet zum Beispiel Einzelcoachings, Sportangebote und Bewerbungstrainings. Der Austausch mit anderen jungen Frauen und den Coaches soll ihnen dabei helfen, ihre persönlichen Stärken und Interessen zu erkennen und an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben. Im Rahmen einer Workshop-Reihe lernen sie verschiedene Abteilungen und Mitarbeitende der DB kennen. Mit dem Projekt machen sich die DB und HAWAR.help für Diversität, soziale Mobilität und leistungsbezogene Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt stark.
Ich sehe uns und die Deutsche Bahn als Arbeitgeberin auch weiterhin in der Verantwortung, Maßnahmen zu entwickeln, die Diversity-Dimension soziale Herkunft entsprechend adressieren. Denn: Dies ist für mich neben der Frage der Chancengleichheit auch eine der Zukunftsfähigkeit der Arbeitswelt.