Soziale Herkunft: Ein Interview mit Sirka Laudon und Mohamed Yasin
Du bist auf Jobsuche und da ist er: der Jobtitel, der Dich und Dein Können voll ausdrückt! Aber dann liest Du die Voraussetzungen. Und die beschreiben eine*n Alleskönner*in: Abschlüsse, Zertifikate, mehrjährige Erfahrung on the job, Praktika, Personalverantwortung. Und am besten auch soziales Engagement.
Was rät Sirka Laudon, Head of People Experience bei AXA: Warum solltest Du Dich als unkonventionelles Talent mit nicht-linearem CV unbedingt bewerben? Welchen unverwechselbaren Impact bringen Menschen wie Du ins Unternehmen? Und wie hat es Mohamed Yasin gemacht, der seine Karriere bei AXA als Auszubildender mit 25 Jahren begann? Wir haben beide interviewt: Hier kommen Hints für Bewerber*innen und Top Insights für Unternehmen!
Sirka, Du bist Psychologin mit Philosophie und BWL im Nebenfach – ein hochinteressanter Mix! Hast in verschiedenen Konzernen gearbeitet und dort die Personalentwicklung vorangetrieben. Seit Oktober 2019 bist Du Head of People Experience bei AXA. Was denkst Du: Hat die soziale Herkunft einen Impact auf den Karriereweg?
Sirka: Sie sollte keinen haben, finde ich. Aber ich weiß: Sie hat ihn. Ich glaube, gerade beim Start ins Berufsleben gibt es doch viele begünstigende Faktoren, wenn Talente aus akademischen Familien kommen: Es existiert eine Erwartungshaltung, die Eltern sind Role Models, sie haben Kontakte, machen vielleicht das erste Praktikum möglich. Später den Auslandsaufenthalt und vieles mehr. Das macht den Berufseinstieg schon einfacher. Aber irgendwann kippt das.
Okay. Inwiefern?
Sirka: Ich glaube, dass Menschen, die aus vielleicht schwächeren sozialen Herkunftsfamilien stammen, sich stärker durchbeißen müssen. Sie müssen improvisieren, sie müssen Frustration aushalten können. Das macht sie robust und resilient – Faktoren, die klar mit Vorteilen für sie verbunden sind. Und auch für Unternehmen. Das kommt ihnen zu einem späteren Zeitpunkt der Karriere zugute.
Sirka, Du nennst „robust“, die Beschaffenheit eines Menschen, als klaren Benefit für alle. Mohamed, wie ist es bei Dir? Du bist gelernter Kaufmann für Versicherungen und Finanzen, heute Krankenversicherungsspezialist bei AXA. Glaubst Du, dass Dein Lebensweg Dich robuster gemacht hat?
Mohamed: Ich denke ja. Meine Eltern sind palästinensischer Herkunft und kamen über Syrien und den Libanon nach Deutschland. Ich selbst wuchs in Berlin Kreuzberg auf. Deutsch habe ich erst in der Schule gelernt. Deswegen wurde ich auch oft unterschätzt. Mich hat aber genau das stärker gemacht: Meine Attitude war: ‘Ich werd’s Euch zeigen!’ Vor meiner Ausbildung bei AXA habe ich schon viele andere Jobs gemacht – auch das hat mich robuster gemacht: Ich wusste, was ich kann, was ich nicht kann, was ich will und auch wohin ich will.
Was für Jobs waren das?
Mohamed: Jobs auf dem Bau, in der Logistik- und Eventbranche. Ich habe angepackt, war viel handwerklich unterwegs. In diesen Branchen ist – neben der Arbeit – auch der Ton rauer. Das härtet ab.
Stimmst Du Sirka zu: Ist die soziale Herkunft ausschlaggebend – egal wie – für den weiteren beruflichen Weg oder sogar Erfolg?
Mohamed: Ich stimme Sirka absolut zu: Mein Start war nicht gerade leicht. Vor allem durch die Sprachbarriere. In der Schule lagen meine Stärken ganz klar nicht in Deutsch! Es waren vielmehr die Naturwissenschaften. Auch später im Studium geriet ich an Grenzen. Wenn auch an andere: Ich hatte mehrere Nebenjobs, um mich zu finanzieren und mir fehlte die Konzentration. Ich brach das Studium ab und schlug mich mit den genannten Jobs durch.
Dein Berufsweg klingt alles andere als linear, Mohamed. Ist das ein Vorteil oder Nachteil, Sirka? Sind Hiring Manager von CVs wie Mohameds angetan oder verunsichert?
Sirka: Es kommt darauf an. Können Bewerber*innen diese Sprünge oder kurze Stationen erklären, dann finde ich es auch durchaus reizvoll, dass Menschen ihre Karrieren nicht super geradlinig geplant haben. Das kann man auch gar nicht, glaube ich. Aber natürlich wird hinterfragt, ob solche Talente auch längerfristig in einer Position bleiben werden. Von diesen Gedanken ist man im Hiring-Prozess nicht komplett befreit.
Wie war es bei Dir: Ist Dein Bildungs- und Berufsweg bislang linear verlaufen?
Sirka: Später ja, aber der Einstieg war’s nicht. Ich bin im Osten groß geworden – da haben nicht viele Abi machen dürfen. Also habe ich erst eine Ausbildung gemacht, dann mein Abi in Hamburg auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt und studiert. Bevor ich zu einem Corporate wechselte und meine Karriere in verschiedenen Konzernen begann, arbeitete ich in einer Werbeagentur. Diese Erfahrung will ich nicht missen. Noch heute profitiere ich ungemein davon!
Was hat sie Dir gebracht?
Sirka: Etwas von Marketing zu verstehen, bevor ich in die Personalentwicklung im Konzern wechselte, war schon gut. Vor allem aber war diese Station sehr wertvoll und prägend für meine Sozialisation: Ich war ein kreatives Umfeld gewohnt und flache Hierarchien. Das machte sich später im Konzern mit klassischen Strukturen schnell bemerkbar: Ich dachte ganz anders als meine Kolleg*innen und ich verhielt mich auch anders.
War das ein Vorteil?
Sirka: Ja.
Auch für das Unternehmen?
Sirka: Unbedingt, denke ich. Ich habe mich nicht gescheut, eine Führungskraft anzusprechen oder anzuschreiben. Damit bin ich ganz normal und selbstverständlich umgegangen. Und genau das meine ich: Die Prägung aus der Agentur, diese nicht hierarchische Sozialisation, hat mich freier gemacht. Auch innerlich. Ich erinnere mich an eine internationale Marketing-Konferenz: Meine Konzern-Kolleg:innen raunten mir damals zu: „Sirka, da gibt es einen Dresscode. Wäre gut, wenn Du Dir einen Blazer zulegst.“ Das kannte ich nicht aus der Agentur. Da waren wir entspannter und auch kreativ in unserem Kleidungsstil. Ich behielt das bei.
Du hast Dir also keinen Blazer für das Event zugelegt.
Sirka: Nein, ich dachte mir „Den schaffst Du Dir jetzt nicht an“. Stattdessen habe ich einen anderen Kleidungsstil im Unternehmen geprägt.
Was hat Dir geholfen, Deinem Stil treu zu bleiben?
Sirka: Mich auf meine ganz originäre Perspektive zu besinnen. Was ist mein bereichernder Blickwinkel? Was ist anders daran? Und wie kann ich ihn einbringen? Der Sog ist riesengroß, dass man sich in einer sehr homogenen Gruppe auch homogen verhält. Ein Beispiel: In den Executive Boards, in denen ich gearbeitet habe, waren meist Männer mit Berater- und Finanzhintergrund. Ich bin aber eine Frau. Und Psychologin. Ich bringe eine ganz andere Sozialisation mit. Warum also sollte ich dieselbe Perspektive einnehmen wie meine Kollegen? Dazu braucht es Reflexion und man muss sich seines eigenen USP bewusst sein.
Stichwort „USP“: Mohamed, was, findest Du, hat Dich klar von anderen Bewerber*innen unterschieden und wie hast Du das im Bewerbungsprozess deutlich gemacht?
Mohamed: Ich habe meine ganzen Erfahrungen nicht als Irrwege, sondern als Stärke verkauft. Das sind sie ja auch! Ich habe deutlich gemacht, dass ich meine Findungsphase voll ausgenutzt habe, dass ich ganz sicher bin, was ich will und dass ich diese Erfahrung, diese Stärke und Gewissheit nun ins Unternehmen bringe. Ich konnte mich für diese Ausbildung entscheiden, weil ich wusste, dass sie nun gut zu mir passt. So konnte ich im ersten Schritt überzeugen. Danach sprachen meine Leistungen für sich.
Wie lautet Dein Tipp für Talente mit nicht-linearen Lebensläufen?
Mohamed: Jede Erfahrung, jeder Job zahlt ins große Ganze ein. Sprich über sie und wie sie Dich geprägt haben. Und: Just do it! Bewerben kostet nichts. Versuch es, trau Dich! Mehr als eine Absage kannst Du nicht kriegen.
Welche Hürden hast Du überwinden müssen, um heute hier zu sein und das sagen zu können?
Mohamed: Ich bin Menschen begegnet, die nicht an mich geglaubt haben. Schon in der Grundschule hieß es: „Mohamed, vielleicht wäre die Hauptschule passender für Dich.“ Das hat mich sehr verunsichert. Gerade als Kind. Ich bin meiner Mutter umso dankbarer, dass sie mir zu Hause immer das Gegenteil sagte: dass ich schlau bin, dass ich alles schaffen kann und dass ich Abi machen werde! Und so kam es auch: Ich kam auf die Oberschule, dann auf die Realschule und: aufs Gymnasium. Dort wieder dasselbe: In der 11. Klasse fragte mich eine Lehrerin: „Willst Du wirklich Abi machen? Ich glaube, Du bist nicht so gut, Du wirst Probleme haben.“
Was hat Dir – außer dem Zuspruch Deiner Mutter – geholfen, Dich durchzubeißen und Abi zu machen?
Mohamed: In der 11. Klasse war ich einfach älter und wusste, was ich kann. Wer mich in Mathe und anderen Naturwissenschaften unterschätzte, war hinterher sehr positiv überrascht! Manchmal war es ein Antrieb für mich – und auch ein Vorteil – unterschätzt zu werden. Ich gab mein Bestes, machte Abi und entwickelte später, in der Berufsausbildung, so einen Elan, dass ich mit ausgezeichneten Noten abschloss.
Congrats, Mohamed! Hättest Du rückblickend irgendetwas anders gemacht, wenn Du die Chance dafür gehabt hättest?
Mohamed: Meine sprachlichen Defizite haben mich immer wieder zurückgeworfen. Und vielleicht hätte sich irgendetwas im Leben für mich anders entwickelt, hätte es mit der Sprache schon eher geklappt. Vielleicht wäre ich ja direkt aufs Gymnasium gekommen, wer weiß? Ich bin mir aber heute sicher, dass mich alle Wege, die ich eingeschlagen habe, alle Jobs, die ich gemacht habe – auch, dass ich mich immer doppelt beweisen musste – sehr gestärkt haben. Ich habe meine Kenntnisse vertieft und mein Selbstbewusstsein entwickelt. So – oder gerade deswegen – konnte ich auch super in die Ausbildung bei AXA starten.
Sirka, was meinst Du: Welchen Impact bringen Menschen mit ähnlichen Lebensläufen wie Mohamed in ein Unternehmen wie die AXA?
Sirka: Sie bringen verschiedene Perspektiven und Sichtweisen ins Unternehmen. Schauen wir auf unser Produkt – Versicherungen – dann ist es ein Produkt für jede*n in der Gesellschaft. Nicht nur für eine bestimmte Gruppe. Ich habe von einem Kollegen mit türkischem Migrationshintergrund gelernt, wie wichtig es ist, dass wir als Organisation den Markt widerspiegeln können. Vom Produkt bis zum Produktflyer müssen wir die Bedarfe unserer Kund*innen kennen, sie verstehen und ihre Sprache sprechen. Das schaffen wir nur, wenn wir sie kennen. Und eben diese Perspektive, diesen Impact, bringen Mitarbeiter*innen aus allen sozialen Herkünften ins Unternehmen. Ich finde sie unverzichtbar. Sie sind eine Bereicherung fürs Unternehmen.
Wie beeinflusst dieser Bedarf an unkonventionellen Talenten den Blick auf den Bewerber*innenmarkt?
Sirka: Maßgeblich: Wir möchten als Unternehmen für alle Bewerber*innen attraktiv sein und uns daraus die wirklich Besten rauspicken. Was wir uns absolut nicht leisten können, ist, dass sich die Top-Talente nicht bei uns bewerben, weil ihr CV nicht linear ist, ihnen ein Zertifikat fehlt oder sie uns vielleicht als ein Unternehmen wahrnehmen könnten, in dem sich Menschen aus verschiedenen Herkünften nicht wohlfühlen würden. Wir leben eine Willkommenskultur und transportieren sie auch spürbar nach außen.
Mohamed, was findest Du persönlich attraktiv an diversen Teams – Menschen, die verschiedene soziale Herkünfte, aber auch sehr unterschiedliche Karrierewege gegangen sind – und mit denen Du heute zusammenarbeitest?
Mohamed: Ich finde das absolut cool! Man lernt unheimlich viel voneinander. Es ist einfach interessant und macht auch richtig viel Spaß!
Sirka, was können Unternehmen denn konkret tun, damit sie Hürden – wie unnötige Zertifikate, Abschlüsse, lineare Karrierewege etc. – einreißen. Und wie macht AXA den Weg für unkonventionelle Talente – damit auch: diverse Teams – frei?
Sirka: Wir bieten, neben der klassischen Ausbildung, konkrete Programme an, die kürzer ausfallen und für den Quereinstieg gemacht sind. Während des Lockdowns haben wir uns absichtlich nach Talenten aus anderen Branchen umgeschaut, beispielsweise aus der Hotellerie, um sie für unseren Kundenservice zu gewinnen. Auch challengen wir unsere Fachbereiche, wenn Positionen zu besetzen sind und Stellenausschreibungen aufgesetzt werden: Muss es unbedingt der BWL-Abschluss sein? Oder kann auch ein*e Geisteswissenschaftler*in die analytischen Skills für diese Position mitbringen? Letztendlich kommt es uns bei AXA aber noch vielmehr aufs Mindset und die Haltung an anstatt auf die perfekte Ausbildung: Passen Talente kulturell perfekt zu uns, dann ist der Abschluss weniger wichtig.
Wie können denn Bewerber*innen ihr Mindset und ihre Haltung schon in einem Anschreiben zum Ausdruck bringen? Hast Du einen Tipp?
Sirka: Ja, gerade für jüngere Berufseinsteiger*innen, Azubis oder Uniabsolvent*innen, die eben nicht viel Berufserfahrung haben und wo sich die Lebensläufe noch nicht voneinander abheben: Bringt Eure persönlichen Kompetenzen ein. Ihr habt auf jüngere Geschwister aufgepasst? Gut! Gebt unter „Kompetenzen“ an, wie empathisch und resilient Ihr seid. Fügt noch ein Zitat eines Geschwisterkindes hinzu und macht damit den entscheidenden Unterschied.
Mohammed, gibt es rückblickend einen Moment, der Dich in Deinem Berufsweg besonders bestärkt hat?
Mohamed: Ja, es war die Zeit, nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte. Ich hatte mich schon viel beweisen und durchkämpfen müssen. War gewohnt, immer mein Bestes zu geben, immer anzugreifen. Das hatte mich müde gemacht. Und auch unglücklich. Statt aber dieses Mal, wie auch sonst, wieder etwas Neues anzupacken, habe ich mich mal sortiert: Ich habe Revue passieren lassen, was ich alles schon erreicht hatte und was ich alles konnte! Es war gut, inne zu halten, einen Gang zurückzuschalten und Klarheit zu gewinnen. Das hat mich glücklich gemacht und mir wieder Kraft gegeben, neu durchzustarten!
Was gibt Dir heute Kraft?
Mohamed: Lebensgeschichten. Man staunt, welche Backgrounds Menschen haben, welche Erlebnisse und Entscheidungen sie ans Ziel geführt haben. Solche Geschichten inspirieren mich! Ich habe kürzlich von anderen erfahren, dass sie berufsbegleitend studieren und denke: Ich werde mich das bald auch trauen! Wenn andere es schaffen, kann ich es auch.
Top! Sirka, gibt es ein Zitat, was Du Talenten abschließend mitgeben möchtest?
Sirka: Ja, Coco Chanels cooler Spruch: „Don’t be like the rest of them, darling.“ Also: Erhalte Dir Deine Andersartigkeit. Coco Chanel hat mit ihrem Stil und ihrer Mode ein ganzes Jahrhundert verändert. Kurzhaarschnitt, lockere Hosen, komfortable Blusen: Es liegt eine Stärke in der Andersartigkeit. Warum sie also nicht zelebrieren und damit die Gesellschaft bereichern?