Was passiert, wenn Wirtschaft inklusiv spricht?
Interview mit Nadia Fischer, CEO und Co-Founder von Witty Works
Ein Wort kann Knochen brechen. Oder die Seele flicken. Es kann Krieg oder Frieden auslösen. Traumatisieren oder trösten. Wenn Worte Macht haben, Sprache die Kultur und Geschichte prägen: Wie können und sollten wir Sprache nutzen? Zwischen Gender-Debatte und generischem Maskulinum: Die inklusive Sprache kommt in der Wirtschaft an. Wie positionieren sich Unternehmen? Was gewinnen sie, wenn sie ihre Corporate Language inklusiv gestalten? Was geht ihnen durch die Lappen, wenn sie zögern? Ein Interview mit Nadia Fischer, CEO und Co-Founder von Witty Works.
Nadia, Du beschäftigst Dich intensiv mit inklusiver Corporate Language. Was hat Dich dazu bewogen?
Mich hat schon sehr früh Sprache interessiert. Ich besuchte ein sprachorientiertes Gymnasium in der Schweiz, ging mit 17 Jahren in die USA, lebte ein halbes Jahr in Burundi, ein Jahr in Chile. Später studierte ich Internationale Beziehungen. Dass Kultur und Sprache sich wechselseitig beeinflussen, hat mich fasziniert! Es sind die Worte, die das Denken auslösen.
Wie meinst Du das?
Wir können zwar Worte 1:1 in eine andere Sprache übersetzen, mit ihnen schwingt aber – je nach Kultur – eine andere Realität mit. Und damit auch eine andere Bedeutung.
Okay, gib mir bitte ein Beispiel für ein solches Wort. Welches kommt Dir spontan in den Sinn?
„Freiheit“. Im Französischen „liberté“, im Englischen „freedom“ oder „liberty“. Ich empfinde dieses Wort in jeder Sprache anders. Bei “liberté” schwingt für mich direkt die Französische Revolution mit. Es ist ein geschichtsträchtiges Wort. Mit „freedom“ verbinde ich den Kampf gegen die Sklaverei und für die Freiheit. Diesen kulturellen oder geschichtlichen Zusammenhang empfinde ich beim deutschen Wort „Freiheit“ aber nicht. Ergo: Ich habe – je nach Sprache – eine andere Wahrnehmung für ein und dasselbe Wort.
Glaubst Du, dass die Sprache die Gesellschaft und Kultur eines Landes prägt? Oder andersherum: Die Kultur und Gesellschaft prägen die Sprache?
Ich glaube, es ist ein bisschen wie mit dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? Ich denke, Sprache und Kultur prägen sich gegenseitig. Immer wieder aufs Neue. Nehmen wir das Wort „geil“ – ein Tabuwort, als ich aufwuchs. Die Erwachsenen verboten es uns. Es war wie eine Revolte gegen sie, es zu benutzen. Eine Abgrenzung zu den Älteren.
2002 dann der Werbeslogan „Geiz ist geil“ von Saturn!
Ja, genau! Plötzlich tönte das Wort in der Werbepause aus jedem Wohnzimmer in D-A-CH. Und heute? Ist es umgangssprachlich, total normalisiert.
Die Sprache wandelt sich. Im Oktober gewann das Wort „Cringe“ den Titel Jugendwort des Jahres 2021 – sehr schön erläutert in der Tagesschau. Wie siehst Du in diesem Zusammenhang die Entwicklung inklusiver Sprache: Setzt sie sich durch?
Schleppend.
Warum? Woran liegt das?
Gehe ich von den Erhebungen der Ethik-Forscherin Timnit Gebru aus, dann liegt es an der Künstlichen Intelligenz (KI). Gebru kritisierte, dass zahlreiche Biases aus der – ich nenne sie “alten” – Sprache weiterhin übernommen werden. Dagegen aber neue Vokabeln, die durch die Bewegungen von LGBTIQ+, Black Lives Matter oder #metoo entstanden sind, nicht. Das liegt daran, dass Künstliche Intelligenz aus riesigen Datenmassen schöpft. Die neuen Vokabeln aus dem inklusiven Sprachgebrauch rutschen dort aber durch. Wie zarte Pflänzchen. Sie haben Mühe, überhaupt von KI erkannt und aufgenommen zu werden.
Das Ergebnis?
KI killt die progressive Sprachentwicklung und stärkt weiterhin den alten Sprachgebrauch.
KI wird doch von Menschen entwickelt: Warum wird sie dann nicht auch so programmiert, dass sie die neuen Entwicklungen abbildet?
Wir entwickeln das, was uns am nächsten ist. Ich bin seit etwa zehn Jahren im Tech-Bereich. Als ich 2012 als IT-Projektleiterin startete, fiel mir direkt Folgendes auf: Die Teams in der Tech-Industrie – ob in Europa oder im Silicon Valley – waren sehr homogen. Vorrangig bestanden sie aus Männern, zwischen 25 und 45 Jahren mit europäischen Wurzeln. Homogene Teams entwickeln technischen Lösungen entlang ihrer Bedürfnisse. Die Bedürfnisse anderer – in diesem Fall von Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, einer anderen Hautfarbe und vielen weiteren mehr – werden aber zugunsten der vorherrschenden Homogenität außen vorgelassen. Das ist gefährlich.
Dem setzt Du heute mit Deinem Unternehmen Witty Works eine Lösung entgegen. Wie kam es dazu?
Ich bin ja begeistert von der Tech-Branche! Ich mag es, dort mitzuwirken, wo Veränderung entsteht. Mir missfiel, dass Menschen, die in der IT-Branche arbeiten möchten, sich dem System anpassen mussten. Besser, fand ich, wäre, würden sich die bestehenden Systeme an den Menschen anpassen. Ich habe dazu viel mit meinem Co-Gründer Lukas Smith recherchiert. Wir lasen viele verhaltensökonomische Studien zu Bias. Darunter Erhebungen der Schweizer Initiative #geschlechtergerechter. Sie belegen, dass unsere Sprache unsere Realität beschreibt. Dass Worte und Wortkombinationen je nach persönlichem Hintergrund interpretiert werden. Das macht Sprache zu einem sehr wichtigen Hebel für Diversität und Inklusion. Lukas und ich beschlossen, auf dieser Grundlage eine Software zu bauen. Sie sollte das bestehende Problem in einer skalierbaren Art und Weise lösen.
Okay, das klingt sehr spannend. Bei der Entwicklung Eurer Software „Witty“ habt Ihr die Corporate Language unter die Lupe genommen. Warum ausgerechnet die Unternehmenskommunikation?
Wir wollten einen Impact erzielen: Change the System – not the people. Unser Why lautet: die Welt inklusiver machen. Divers ist sie ja schon. Für uns sollte der inklusive Ansatz in der Wirtschaft stattfinden. In den Unternehmen selbst. In ihrer internen Kommunikation mit Mitarbeiter*innen und in der externen Ansprache mit ihren Zielgruppen.
Auf welche Defizite seid Ihr bei Euren Recherchen gestoßen: Gibt es unbewusste Stereotype, die sich in der Unternehmenskommunikation wiederholen?
Ja, Unconscious Bias verstecken sich hinter sehr vielen Worten. Ein Beispiel ist die „kompetitive Sprache“. Worte wie „Top Performer“, „wettbewerbsorientiert“, „leistungsbereit“, „belastbar“, „flexibel“. Werden solche Worte z.B. im Employer Branding genutzt, treffen sie kaum den Nerv der jüngeren Generationen. Die sind weit weniger auf Wettbewerb und Konkurrenzdenken sozialisiert, dafür mehr auf Kooperation. Oder nehmen wir die Diversitätsdimension Age Inclusion: Worte, wie „jung“ und „dynamisch“ schrecken die Generation 50+ ab. So auch die konstante Verwendung des generischen Maskulinums. Es spricht die Hälfte der Bevölkerung einfach nicht an: Frauen.
Was ist der Effekt? Was versäumen Unternehmen konkret, wenn sie weiterhin aufs generische Maskulinum setzen?
Dass sich Menschen nicht adressiert, nicht in den Diskurs involviert fühlen. Die Effekte sind: weniger Belonging und ausbleibendes Interesse. Die jüngeren Generationen – das beobachte ich bei meinen Kindern – achten verstärkt auf inklusive Sprache. Es fällt ihnen auf, wenn Unternehmen diesen Anspruch nicht erfüllen. Setzen die weiterhin aufs generische Maskulinum, riskieren sie, die Talente von morgen gar nicht erst anzusprechen. Eine inklusive Unternehmenskommunikation ist also ausschlaggebend fürs Employer Branding. Fürs eigene Image und das Standing auf dem Arbeitsmarkt. Fortschritt, Innovation, wirtschaftlicher Erfolg hängen unmittelbar mit Diversität und Inklusion zusammen. Warum sie also in der Unternehmenskommunikation versäumen?
Du hast mit Deinem Team “Witty” entwickelt: eine Software, die Unternehmen genau dafür eine Lösung bieten soll. Wie funktioniert das Tool genau?
Es ist ein Browser-Plugin, das Web-basierte Texte automatisch auf Inklusivität prüft. Ob Du einen Linkedin-Post schreibst, E-Mails oder andere Webtexte: Der Algorithmus markiert Worte und Wortkombinationen, die unbewusst diskriminierend oder nicht inklusiv sind. Via Klick wird Dir eine Formulierungshilfe – eine inklusive Wortalternative – gegeben. Und Du kannst auch mehr zum Hintergrund von gehighlighteten Worten erfahren. Witty funktioniert so, wie wir es schon von Anwendungen wie Grammarly kennen.
Also ein Rechtschreibprogramm für Diversität und Inklusion.
Richtig.
Praktisch! Welches Feedback erreicht Dich von Unternehmen, die “Witty” anwenden? Gibt es messbare Benefits, von denen die Unternehmen zehren?
Ja, tatsächlich sogar welche, mit denen wir gar nicht gerechnet haben. Viele Unternehmen investieren zunehmenden in Diversity-Maßnahmen – nicht zuletzt wegen der ESG-Auflagen. Beispielsweise buchen sie Workshops zu Unconscious Bias. Oft finden solche Seminare aber nur einmal statt. Und das Erlernte verfliegt. Mit einer Software, die Mitarbeiter*innen aber täglich anwenden, lernen sie auch kontinuierlich. Die DB und Accenture haben uns zurückgemeldet, dass ihre Teams durch Witty einen sehr hohen Lerneffekt haben. Das ist ein überraschender Benefit! Auch wird uns zurückgespielt, dass sich Unternehmen in ihrer Kommunikation wohler fühlen. Über die Software vermeiden sie Risiken, die ihrem Image schaden könnten. Zum Beispiel Shitstorms wegen unbewusster Fehlformulierungen in Social Media Posts. Auch interessant: Die inklusive Ansprache hat bei einigen Unternehmen eine höhere Retention Rate erzielt. Es fühlen sich einfach mehr Zielgruppen angesprochen und involviert. Plus: Unternehmen erfüllen den Faktor “Soziales” aus den ESG-Auflagen.
Gibt es einen Case, der Dich besonders beeindruckt hat?
Ja, genauer sind es zwei Schweizer Unternehmen: Sie meldeten uns zurück, dass sie plötzlich viel mehr und viel bessere Bewerbungen von Frauen erhielten, seit sie ihre Corporate Language und Kommunikation inklusiv gestalteten. Das Interesse von Frauen an den Unternehmen stieg deutlich. Das zeigt in der Praxis, was Studien längst belegen: Die Ansprache ist der Schlüssel, um die passenden Zielgruppen und Talente anzusprechen. Eine inklusive Sprache hat einen spürbaren Effekt.
Das sind tolle Stories, Nadia! Was ziehst Du für Dich selbst aus Deiner Arbeit mit Witty Works?
Unsere unbewussten Verhaltensmuster treffen wesentlich schneller Entscheidungen für uns, als es unser bewusstes Denken vermag. Das liegt an unserer Sozialisierung. Bias sind in uns allen. Deswegen ist es auch viel Arbeit, unseren Unconscious Bias auf die Schliche zu kommen. Wir haben auch bei Witty Works ein Ethik Board aufgestellt: damit wir uns immer wieder selbst und unsere Prozesse auf Diversity & Inclusion prüfen. Es ist ein kontinuierlicher Lernprozess. Ich lerne täglich dazu.
Die Debatte um Gender-gerechte Sprache wird leidenschaftlich geführt. Laut Umfragen lehnt sie eine Mehrheit in Deutschland ab. Mit welchen Argumenten würdest Du diese Menschen überzeugen?
Vielleicht, indem sie eine Situation abrufen, in der sie selbst in der Minderheit waren. Oder ausgeschlossen wurden. Ich denke, jeder Mensch hat das eine und/oder andere schon mal erlebt. Was wünschen wir uns in solchen Situationen? Sensibilität, Empathie, gesehen und involviert werden. Warum also sollten wir an einem Sprachgebrauch festhalten, der Menschen ausschließt? Oder der eine Hürde für sie bedeutet? Als privilegierter Mensch, der selten in der Situation einer Minderheit war, ist es für mich persönlich eine Pflicht, solche Hürden abzubauen. Zumindest aber meinen eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen.
Vielen Dank für Deine Insights und Tipps, liebe Nadia!
Neugierig geworden? Vernetze Dich mit Nadia, erfahre mehr über ihre Arbeit auf witty.works und tausche Dich online über Inclusive Language aus!