„Bildung ist kostenlos!“; „Es stehen dir alle Türen offen!“; „Nur du allein bestimmst dein Schicksal!“ Es sind diese Sätze, die den Schein wahren, selbstbestimmt über die eigene Zukunft entscheiden zu können. Diesen Anspruch muss man schließlich in einer deliberativen Demokratie wie Deutschland aufrechterhalten. Sich brüsten und rüsten gegen all die Studienergebnisse, die das Gegenteilige bezeugen. Denn es sind jene Sätze, die suggerieren, dass es genauso einfach ist, einen Job zu bekommen, wie einen Job zu wollen. Forschungen zeigen jedoch, dass dieses einmal Eins leider nicht so einfach aufgeht wie die westliche Welt das gerne hätte.
Wenn Menschen aus sozial schwachen Herkünften Schwierigkeiten haben, einen Job, ein Studium oder eine Ausbildung zu finden, dann nicht, weil sie dies nicht wollen. Vielmehr liegt die Diskrepanz darin, dass die mit der Jobsuche verbundenen Ansprüche je nach sozialer Herkunft anders sind. Die soziale Welt funktioniert noch immer wie ein Monopoly Spiel, bei dem jede*r ihre*seine von der Bank ausgehändigten Chips einsetzt. Doch nicht jede*r bekommt die gleiche Anzahl an Chips. Allen gemeinsam ist dabei der Kampf um Anerkennung, der Wille, als unterschiedlich und unterscheidbar wahrgenommen zu werden. Mit der Investition in Bildung, der eigenen Besetzung und mit der Anerkennung, die der Wettbewerb mit den anderen bringen kann, bietet die soziale Welt den Menschen, was ihnen am meisten fehlt: Möglichkeiten. Wenn man die vorausgesetzten Ressourcen hat, diese Möglichkeiten zu (er)greifen. Dies gilt vor allem für jene Menschen, die nicht in ihrer sozialen Herkunft bleiben, sondern „aufsteigen“wollen.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930 – 2002) ging davon aus, dass nicht nur die Herkunft, sondern auch der sogenannte Habitus das soziale Ansehen einer Person bestimme. Wir haben mit Sadiye Kilic, eine Molekular- und Neurobiologin gesprochen, die uns von ihrem Weg, ihrer Beziehung zu „Arbeiterkind“ und ihren Hürden in diesem sozialen Monopoly Spiel erzählt hat.
Sadiye, dein Bildungs- und Karriereweg liest sich fast Bilderbuchartig. Viele Menschen wird es daher wahrscheinlich überraschen, dass dieser Weg tatsächlich sehr steinig war. Würdest du uns etwas über dich und deinen Weg erzählen?
Der Weg zum Studium und auch der Weg danach war nicht einfach und alles andere als selbstverständlich oder bilderbuchartig. Nach der Grundschule ging ich auf eine Hauptschule und hatte keine genaue Vorstellung davon, was ich später mal werden wollte. Dass ich später mal einen Masterabschluss in Life Science mit Schwerpunkt Molekular- und Neurobiologie haben werde, hatte ich so nicht geplant und war auf das Leben an der Uni nicht vorbereitet. Ich musste mir das notwendige Wissen um Studienorganisation, Fachschafen, Praktika etc. selbst mühsam erarbeiten. Auf den Gedanken zu studieren kam ich erst durch einen Zufall als ich ungefähr 18 war, denn zuhause fehlten mir mir (akademische) Vorbilder. Ich war zudem die erste Studierende meiner Familie und musste rückblickend deutlich mehr Hürden bestreiten als jemand, der keinen Migrationshintergrund hatte, keine Frau ist, begrenzte Fördermöglichkeiten hatte und schlicht und ergreifend anders sozialisiert wurde. Ich konnte nur annähernd begreifen, was es bedeutete, auf einer Hauptschule zu sein. Meine Lehrer*innen, die mich sehr unterstützt haben, verstanden das sehr wohl und ließen nicht locker, bis meine Noten sich besserten. Als erste weibliche Studierende in meiner Familie hatte ich also zwei große Aufgaben, statt „nur“ eine: Neben den sachlichen Inhalten auf dem Weg von der Hauptschule zur Universität musste ich viele soziale Barrieren durchbrechen – innerhalb meiner konservativen Familie und der deutschen Gesellschaft. Das war verbunden mit vielen persönlichen Opfern, viel Abweisung, viel Neuanpassung und erfordert bis heute sehr viel Kraft und hohen Fokus auf meine Ziele. Sich nicht von einem unterschätzenden und ständig anzweifelnden Umfeld runterziehen zu lassen ist mit viel Stress verbunden und war auch meine größte Herausforderung. An der Universität musste ich schlicht und ergreifend mehr Stoff nachholen als meine Kommiliton*innen, zumindest in den ersten Semestern. Nichts davon hat sich jemals angefühlt, als wäre ich auf dem Weg zum Erfolg. Im Gegenteil: ich habe ständig gezweifelt, weil auch Menschen um mich herum an mir oder meinen Zielen gezweifelt haben. Ich war sehr jung und wusste mich nicht zu wehren. Das Einzige, was mir Zuversicht gab, war die Erinnerung daran, dass meine Lehrer*innen an mich geglaubt hatten – wieso sollte ich es also nicht schaffen? Mein Bildungsweg sieht vielleicht auf dem Papier schön aus, aber die Einsamkeit auf diesem Weg sieht natürlich niemand – niemand fragt danach, wie es einem denn dabei geht, ohne jegliche Unterstützung klarkommen zu müssen. Und wenn dann doch jemand mitbekam, welche mentale Last hintersteckte, wendete er oder sie sich ab.
Wie bist du zu Arbeiterkind gekommen?
Das war wieder ein Zufall. Mein Freund hat in der Zeitung einen Artikel über ArbeiterKind.de gelesen und wir waren überrascht und erleichtert darüber, dass es Leute gibt, die unsere Probleme teilen. Mit Peers über die Bildungsgeschichte zu reden, führte zu einer Anerkennung des eigenen Erfolgs. Neben dem Gefühl endlich verstanden zu werden, verbindet mich mit ArbeiterKind.de vor allem einen gemeinsamen Auftrag zu haben: Anderen Mut zu machen. Ich hatte selbst keine Vorbilder, nur Anti-Vorbilder, die mir zeigten, wie ich auf gar keinen Fall sein wollte. Wenn ich also heute ein junges Mädchen mit vielen Ambitionen sehe, freut es mich, wenn ich ihr helfen kann. Denn ich weiß, wie schwer sie es manchmal haben und sich dessen nicht bewusst sind. Ohne je von Mentor*innen gehört zu haben, hatte ich sehr früh meine erste Menti, meine kleine Schwester. Es war hart, als erste in der Familie zu studieren und den eigenen Weg zu gehen und ich bin einfach froh, dass ich ihr Werkzeuge geben konnte, damit sie ihren Weg unbeirrbar bestreiten kann.
Mit welchen Hürden hattest du & hast du zu kämpfen, die ein Max Mustermann aus privilegiertem Haushalt vielleicht nicht hat?
Ein Max Mustermann musste wahrscheinlich nicht seine Eltern zum Arzt begleiten und dolmetschen oder zum Elternsprechtag der Geschwister oder sogar zum eigenen Elternsprechtag gehen, um das zu übersetzen, was Lehrer*innen da sagten. Er musste sich vermutlich nicht um die behördlichen Angelegenheiten und den Papierkram seiner Eltern kümmern – wurde also vermutlich nicht „parentifziert“. Das passiert häufig bei Kindern in Migranten- und Arbeiter*innenfamilien. Er musste sich wahrscheinlich nie anhören, dass er egoistisch ist, nur weil er unter all diesen Belastungen gerechtfertigte Grenzen setzt. Er hatte vermutlich eher Alternativen für den Fall, dass sein Studium doch nicht klappte, die Aussicht auf ein Erbe oder eine Stelle im Familienunternehmen. Ich hatte nichts davon. Keine Absicherung, kein Netzwerk, keine Tipps für Praktika oder Stipendien, keine Alternativen. Vielleicht hat man Max Mustermann sogar öfter einen Vertrauensvorschuss gegeben als mir, die sich erst beweisen musste.
Gab es Situationen, in denen du aufgrund deiner Herkunft, deines Geschlechts und deines Namens gar nicht erst inkludiert wurdest? Wie bist du damit umgegangen?
Als Kind und Jugendliche habe ich das sehr deutlich erlebt. Vor allem, dass ich aufgrund meines Aussehens ausgeschlossen und rassistisch beleidigt wurde. Als erwachsener Mensch habe ich Diskriminierungen indirekt erlebt. Menschen machen sich nicht angreifbar, in dem sie direkt sagen, dass sie dich aufgrund deiner Herkunft oder deines Geschlechts nicht teilhaben lassen. Stattdessen passiert das indirekt, indem sie dich nicht anschauen, dir nicht zuhören und sich nicht um den Namen bemühen. Ich habe mich davon nie beirren lassen, da ich meine Ziele klar vor Augen hatte. Nichtsdestotrotz ist es emotional anstrengend, wenn man rassistisch oder klassizistisch angegangen wird. Meine Erfahrung ist, dass je internationaler ein Umfeld ist, desto weniger Diskriminierung kommt vor. Umfelder in denen fast einheitlich nur eine Art von Mensch sind; also eine Nationalität, eine Sprache und eine Form von Körper, desto mehr Diskriminierung habe ich erlebt. Deswegen finde ich, dass vor allem diverse Teams existieren müssen. Es ist die Zukunft und führt zu mehr Menschlichkeit und Teilhabe.
Was aus der Perspektive der eigenen Sozialisation klar zu sein scheint, muss für andere erst mal plausibel gemacht werden. Wie siehst du das: Hast du von Anfang an offen über deine Herkunft gesprochen? Wie sahen Reaktionen aus?
Dem stehe ich ambivalent gegenüber. Kaum Privilegien gehabt zu haben, ist nicht etwas, womit man sich brüsten kann. An manchen Tagen erkläre ich es gerne, an anderen Tagen habe ich absolut keine Lust, das hundertste Mal erklären zu müssen, warum nicht jede*r eine Auslandreise im Studium machen konnte und vielleicht auch nicht wollte. Ich rede offen darüber, wenn ich es für nötig erachte (also wenn ich merke, dass mein Gegenüber überhaupt nicht versteht, wie man keine Privilegien haben kann). Ich sehe es aber nicht ein, mich im Alltag unnötigerweise darzustellen, sondern versuche, es in einen größeren Kontext zu setzen. Ich bin nicht die einzige, der es so geht. Im Grunde mache ich aber nichts Großartiges, ich stelle mich einfach als Mensch vor und will als nichts anderes gesehen werden. Als Mensch, kein exotisches Wesen von einem anderen Planeten. Ich spreche vieles direkt an, zum Beispiel, dass viele Dinge Privilegien sind oder ich schlicht und ergreifend andere Erfahrungen gemacht habe. Vor allem weise ich daraufhin, andere Perspektiven ebenso zu berücksichtigen und zu respektieren. Am liebsten habe ich es, wenn ich mich überhaupt nicht erklären muss oder es zumindest ungezwungener machen kann. Und das funktioniert am besten in einem Umfeld, das divers ist. Also wo jeder ein bisschen anders ist als die „Norm“. Ich würde mir aber auch wünschen, dass auch nicht-Betroffene darüber reden würden. Rassistische und klassizistische Diskriminierung geht alle etwas an, nicht nur Betroffene.
Würdest du sagen, mehr Bildung führt zu weniger Ungleichheit?
Bildung ist auf jeden Fall sehr wichtig und führt unter anderem zu weniger Ungleichheit aber nicht ausschließlich, da Ungleichheit ein systematisches Problem ist. Wenn eine sehr gebildete junge Frau in einem repressiven Land lebt, wird das System sie trotz ihrer Bildung unterdrücken. Ein weiteres klassisches Beispiel ist, dass zwei Menschen den exakt gleichen Bildungsweg mit den exakt gleichen Abschlüssen und Qualifikationen haben könnten, die eine Person aber dennoch bevorzugt wird – sei es aufgrund von Geschlecht, Nationalität oder auch körperlichen Eigenschaften. Ein weiterer Punkt wäre, dass Schulen und Universitäten & Lehrer*innen Personal besser in psychologischen Kompetenzen ausgebildet werden, um Situationen besser verstehen und eingreifen zu können.
Der Soziologe Aladin El Mafaalani sagte, dass sozialer Aufstieg ein schmerzhafter Weg ist und dass man es verkraften muss Außenseiter*in zu sein. Wie stehst du dazu?
Ich würde auf jeden Fall zustimmen, dass man sich als Außenseiter*in fühlt, wenn man zwischen den Schichten oder den Communities „wandelt“. Wenn man an einem Klassenkonstrukt festhält, dann bin ich von einer bestimmten Klasse oder auch von einer bestimmten Community in eine andere gewechselt. Ich habe also eine Art gesellschaftliche Transformation gemacht. Ich nenne das nicht gerne aufsteigen, weil aufsteigen impliziert, dass Menschen, die weniger Geld haben oder „sozial schwach“ sind, weniger wert sind, ähnlich wie in einem Kastensystem.
Das Außenseiter*innentum bedeutet, dass Personen, die innerhalb der Klassen wandern, viele Kompetenzen mit sich bringen wie die von Herrn El Mafalani beschriebene Trennungskompetenz: Man muss sich von Menschen trennen und an andere wiederum anpassen können. Herr El Mafalani sagt außerdem, dass es dafür einer Synthetisierungskompetenz bedarf, also der Fähigkeit, Brüche in der Biografie sowie divergierende Erfahrungshorizonte selbstständig und gewinnbringend in einen sinnvollen Deutungszusammenhang zu überführen. All das habe ich selbst so erlebt. Auch ich musste mich von Menschen trennen, teilweise von Familienmitgliedern, was besonders schmerzhaft ist. Ich habe sehr oft gehört, ich sei egoistisch und mir wurde sogar meine Weiblichkeit abgesprochen, weil ich zu selbstbewusst und ernergisch sei. Ich sehe es aber nicht ein, mir von anderen sagen zu lassen, wer ich bin oder wie ich mich zu verhalten habe. Ich habe gelernt mir selbst zu vertrauen, denn ich war es, die sich aus all den Widrigkeiten befreit. Macht mich das zu einer Außenseiterin? Ja, vielleicht. Aber wie ArbeiterKind.de zeigt, ist man meist nicht so allein, wie man immer glaubt und dass es sich lohnt, sich mit anderen Menschen zu vernetzen.