„Sozialer Aufstieg ist hart. Man muss es aushalten, Außenseiter*in zu sein“, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Doch muss man tatsächlich alleine stehen, um in eine vermeintlich wirkungsreichere Gesellschaftsklasse aufsteigen zu können? Wir haben mit Katja Urbatsch und Sagithjan Surendra gesprochen, die uns erklären, mit welchen Problemen studierte Arbeiter*innenkinder noch heute zu kämpfen haben – und warum Bildungserfolg besser im Kollektiv gelingt.
Katja Urbatsch, Gründerin und hauptamtliche Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation ArbeiterKind.de
Katja ist Gründerin und hauptamtliche Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation ArbeiterKind.de. Sie hat Nordamerikastudien, Betriebswirtschaftslehre und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert und war mithilfe eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an der Boston University. 2008 gründete Katja ArbeiterKind. Heute ist es deutschlandweit die größte Organisation für Studierende aus nicht-akademischen Familien. Gemeinsam mit 6.000 Ehrenamtlichen in 80 lokalen Gruppen ermutigt Sie Schüler*innen zum Studium und begleitet sie als Studierende der ersten Generation durch das Studium bis zum Berufseinstieg.
Liebe Katja, das klingt erst mal nach einem Bildungsweg, der nicht für jede*n möglich ist. Was bedeutet für dich konkret soziale Ungerechtigkeit?
Im Nachhinein sehen Lebensläufe toll aus, doch ich musste sehr darum kämpfen. In die USA zu gehen war nicht selbstverständlich und ich war daher sehr überrascht, dass ich es letztendlich umsetzen konnte. In Deutschland hängen die Bildungschancen von jungen Menschen von jeweiligem sozialem Hintergrund ab, wodurch eine soziale Ungerechtigkeit entsteht. Unzählige Studien belegen, dass Kinder aus Nicht-Akademiker*innenfamilien, seltener studieren als Kinder aus Akademiker*innenfamilien. Hier beginnen ca. 80 % ein Studium, bei Kindern nicht-akademischer Herkunft sind es nur 27 %. Wenn Bildungs- und Lebenschancen in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängen, ist das für mich Zeugnis sozialer Ungerechtigkeit.
Inwiefern ist dir genau das schon widerfahren?
Ich hatte bereits in der Schule das Gefühl, dass es einen Unterschied macht, aus welchem Elternhaus man stammt. Beispiele dafür sind Situationen mit damaligen Lehrer*Innen. Bereits in der fünften Klasse wurde mir im gesagt, ich werde nie richtig Englisch sprechen können, während mir meine Deutschlehrerin mitgab, dass ich zu ehrgeizig sei. Ich solle lieber einen Gang runterschalten. Solche Situationen führen zu einer Abgrenzung zwischen Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen und Kindern aus Akademiker*innenfamilien, die solche Sätze nicht hören mussten. Vielleicht, da diese Eltern ein akademisches Selbstbewusstsein besitzen und solche Bemerkungen offen hinterfragen. Folglich trauen sich Lehrer*innen teilweise nicht Akademiker*innenkinder mit der gleichen Direktheit zu konfrontieren. Abgesehen davon, dass sich niemand sonderlich interessierte, wie es für mich nach dem Abitur weitergeht, war ich in der Schule sehr erfolgreich. Ich war selbstbewusst und laut und habe mir meinen Weg dadurch erkämpft. Das zeigt aber auch, wie ausschlaggebend jeweilige Persönlichkeit ist, diesen Kampf zu kämpfen. Ich weiß, dass ich ein Erfolgsbeispiel bin, es aber natürlich Menschen gibt, die eine noch größere soziale Ungerechtigkeit erfahren haben. Daher möchte ich besonders denjenigen helfen, denen es an Mut fehlt, alleine aufzustehen und dadurch keine Chancen haben.
Wir leben in einem der privilegiertesten Länder der westlichen Welt mit hohen Bildungsstandards. Warum spielt der Bildungsgrad der Eltern also noch eine so erhebliche Rolle?
Ich denke, es hat nicht nur mit dem Reichtum eines Landes per se zu tun. Natürlich hängen viele Dinge von den finanziellen Möglichkeiten ab, allerdings ist der Reichtum hierzulande nicht gleich verteilt. Ich bin Teil des European Access Network mit Vertreter*innen aus verschiedenen Ländern. Eine Form von Klassengesellschaft haben wir leider überall. Wir denken als Gesellschaft in Schubladen, was dazu führt, Zukunftschancen von Menschen von ihrer Herkunft abhängig zu machen. Das äußert sich zum Beispiel in Schulempfehlungen und der Bereitschaft, Potenziale überhaupt zu erkennen. Die Schwierigkeit liegt hier vor allem in der Transparenz unserer Klassengesellschaft, denn als demokratisches Land möchte man sich das natürlich nicht eingestehen.
Wie bist du auf die Idee gekommen, Arbeiterkind zu gründen?
Das ausschlaggebende Momentum war mein Studium. Die Realisierung, dass ich aufgrund eines anderen sozialen Hintergrundes nicht genauso selbstbewusst Fremdwörter verwenden konnte, keine Hilfe bei Hausarbeiten oder Unterstützung bei Bewerbungen erhielt und mir schlicht das Wissen von essenziellen Dingen wie Stipendienvergabe fehlte. Das führte zu einer ersten Website, die durch unsere Teilnahme an dem „startsocial“ Wettbewerb erste Erfolge feiern konnte.
Arbeiterkind begleitet die Menschen sowohl im Studium als auch im Berufseinstieg. Inwieweit unterscheidet sich die soziale Ungerechtigkeit bei Bildung und Jobsuche?
Da gibt es durchaus Unterschiede. Allerdings sind diese Unterschiede abhängig von jeweiligem Studiengang. Es gibt geradlinige Wege, wie zum Beispiel Lehramt, auf das direkt ein Referendar folgt. Bei anderen Bereichen wie zum Beispiel Sozialwissenschaften, sind dahingegen Auslandsaufenthalte und Praktika relevant und dadurch andere Studienfinanzierungen. Letzteres ist ein besonders großes Thema, da in der aktuellen Zeit ein großer Finanzdruck besteht. Dadurch können jene Personen nicht mit dem gleichen Fokus studieren wie andere, die keine*oder weniger finanzielle Sorgen haben. Nichtsdestotrotz merken wir, dass sich der Berufseinstieg positiv entwickelt, und haben fortan ein konkretes Berufseinstiegsprogramm, um diese Entwicklung weiterzuführen.
Sagithjan Surendra ist Gründer & Vorstandsvorsitzender des Aelius Förderwerks
Außerdem ist er Student des Jahres 2020, Top Talent Under 25, CEO & Co-Gründer von Diginary Consulting, TEDx-Speaker, Engagementpreisträger der Studienstiftung des deutschen Volkes, bayerischer Bürger*innenpreisträger, bayerischer Digitalpreisträger, Molekularmediziner und das alles mit erst 24 Jahren! Sagithjan gründete sein erstes Unternehmen bereits mit 18 Jahren. Nachdem seine Eltern als Kriegsflüchtlinge von Sri Lanka nach Deutschland kamen, ist er ohne Startkapital und Tennisplatznetzwerk der erste Gründer seiner Familie. Mit dem Aelius Förderwerk ist er nun selbst Arbeitgeber, Motivator und Mentor. Das Unternehmen ist es auf ein Netzwerk von rund 200 Ehrenamtlichen in ganz Deutschland angewachsen und hat mehr als 7.000 junge Menschen auf ihrem Bildungsweg begleitet.
Sagithjan, das sind eine Reihe von Titeln, die viele Menschen gerne tragen würden. Wie hast du soziale Ungerechtigkeit erlebt?
Bei mir ist der Ursprung immer eine sehr biografische Erfahrung. Mein eigener Bildungsweg, der auf dem Papier geradlinig aussieht, ist vor allem von den Erfahrungen meiner Mitmenschen gezeichnet. Ich habe gemerkt, wie die finanzielle Situation, in der ich aufgewachsen bin, meinen Schulweg stark beeinflusst hat und wie viel ich auch außerhalb der Schule nicht teilnehmen konnte. Über die Jahre realisierte ich, dass ich immer mehr vereinsame und noch dazu der Einzige in meinem Umfeld war, der Abitur machen und studieren gehen wollte. Ich glaube, das sind meine ersten Erfahrungen mit dem Thema soziale Ungerechtigkeit und soziale Herkunft, die mich schlussendlich zum Gründen motiviert haben.
Wie fängt man an seine Ziele zu verfolgen, wenn man gar nicht weiß wo?
Tatsächlich war es sehr viel YouTube schauen, das ist eine sehr gute Quelle. Und ich war in meinen letzten 1.5 Schuljahren in einem Förderprogramm für Schüler*innen mit Migrationsgeschichte in Bayern. Das war nochmal ein besonderer Katalysator für mich. Ich merkte, ich bin in einem Netzwerk mit vielen Menschen, die eine ähnliche Biographie mit mir teilen, aber an vielen Stellen ein paar Schritte weiter sind als ich. Das gab mir die Inspiration, in deren Fußstapfen zu treten und jemandem konkrete Fragen stellen zu können. Ich glaube dieses peer to peer empowerment ist das, was mich letztendlich ins Studium gebracht hat, mehr noch als Eltern oder Lehrkräfte.
Wer hat dich dabei unterstützt und dir Türen geöffnet?
Katja war meine erste sogenannte Türöffnerin. Ich war mit der Frage konfrontiert, dass ich zwar etwas erschaffen will, und die Idee von Aelius war relativ klar, doch wo ich genau anfangen und wie dieser Weg beschritten werden kann – keine Ahnung. Zu diesem Zeitpunkt war Arbeiterkind.de fast 10 Jahre alt und ich habe sie einfach gefragt: „Können wir uns mal unterhalten?“. Katja ist seitdem auch als Kuratoriumsmitglied an vielen Schritten beteiligt. Vor allem durch ihre Lebensgeschichte ist sie für mich jemand, die Mut macht und für mich und viele andere die Weichen gelegt hat. Ich konnte dadurch erkennen, das ist kein Weg, den ich als Pionier gehen muss, sondern es gibt jemanden, der in diesem Bereich schon viel geschafft hat und bereit ist, dieses Wissen mit mir zu teilen.
Was liegt dir bei Aelius Förderwerk besonders am Herzen?
Wir sind ein Mentoringprogramm. Wir fördern Kinder ab 13 Jahren und begleiten sie mit individuellen Mentor*innen bis zu ihrem erfolgreichen Schulabschluss. Die Kinder und Jugendlichen in unserer Förderung haben zusätzlich ein Jahresprogramm wo sie an Workshops, Sommercamps usw. teilnehmen können. Ergänzend dazu haben wir ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen. Wir haben letztes Jahr die 200er-Marke überschritten, die in verschiedenen Regionalgruppen aktiv sind und dort Beratungsangebote durchführen – gemeinsam mit Schulen, mit Jugendklubs usw. Für mich ist Aelius eine Entwicklung gewesen, weil ich das Programm aufgrund der Zahl wie viele Nicht-Akademiker*innenkinder es in ein Studium schaffen und wie viele Akademiker*innenkinder. Über die Zeit mit Aelius ist mir aufgefallen, dass das zwar eine Orientierungsgröße ist, aber nur eine von vielen. Unsere Gesellschaft ist vor allem auf der Ebene der Entscheidungsträger*innen extrem homogen gestaltet. Aelius hat das Ziel, das wir gerade Menschen mit einer prekären sozialen Herkunft dazu ermutigen, ihre eigene soziale Herkunft zu reflektieren und dadurch eine Form des gesellschaftlichen Engagements aufnehmen, um zu sagen: „Wir möchten die Gesellschaft mitgestalten, mit einer Perspektive, die heute unzureichend vertreten ist.“
Katja und Sagithjan sind die Reise des sozialen Aufstiegs gemeinsam gegangen und zeigen damit, man muss kein*e Außenseiter*in bleiben, um den sozialen Aufstieg zu schaffen, sondern kann sich sein eigenes Netzwerk bauen.
Doch was kann seitens der Unternehmen konkret getan werden, um sozialer Ungerechtigkeit entgegenzuwirken?
S: Ich finde eine Leistungsbeurteilung ist ohne die Einbeziehung der sozialen Herkunft nicht vergleichbar. Das ist eine große Schraube, an der man drehen muss und zum anderen auch die Organisationskultur. Auch in meinen Praktika habe ich gemerkt, dass gerade in sehr hoch bezahlten Jobs, immer ein gewisses Mindset besteht, das davon geprägt ist, dass dort viele Menschen sind, die von frühen Jahren an ein sehr gutes Netzwerk hatten. Diese Personen wissen sich in bestimmten Sphären sehr gut zu bewegen. Das macht es im Vergleich zu jemandem, der aus prekären Verhältnissen kommt unglaublich schwer, überhaupt die Hoffnung aufzubringen, sich in solchen Unternehmen wohlzufühlen. Es muss sich noch sehr viel verändern, um eine inklusivere Arbeitsgesellschaft und – kultur zu haben.
K: Wir arbeiten mit Unternehmen zusammen und versuchen hier vor allem zu sensibilisieren. Obwohl viele Arbeitgeber*innen zwar sagen, sie wollen Diversity, haben sich benachteiligende Einstellungskriterien wie Auslandsaufenthalte oder prestigeträchtige Praktika nicht verändert. Standardisierte Computerprogramme berücksichtigen keine sozialen Hintergründe, wodurch viele Menschen bereits im Vorfeld aussortiert werden. Eine Person aus sozialschwachem Hintergrund muss sich neben der tatsächlichen Arbeit auch mit anderen Themen auseinandersetzen. Daher müssen Arbeitgeber*innen hier geduldiger sein. Es reicht nicht zu sagen, wir wollen diese Personen einstellen, aber alle Strukturen bleiben, wie sie sind.
Welchen Tipp könnt ihr den Leser*innen mitgeben, die Barrieren der sozialen Herkunft zu brechen?
K: Es gibt mittlerweile eine Reihe von tollen Initiativen wie Aelius, Netzwerkchancen, Speedupbuddy. Es ist wichtig, sich Gleichgesinnte zu suchen, die die Situation verstehen, um uns gegenseitig zu unterstützen. Dazu gehört auch, ein offeneres Gespräch darüber zu entwickeln.
S: Fragen! Viele Menschen sind dazu bereit, ihr Netzwerk zur Verfügung zu stellen, um jemanden zu unterstützen, der*die denselben Weg gehen möchte, den man selbst gegangen ist. So ein*e Mentor*in ist ein unglaublicher Katalysator. Das heißt nicht, dass es immer funktioniert, aber es ist ein Prinzip, das sich sehr gut bewiesen hat. Sich in irgendeinem Kontext – sei es die Organisationen – Menschen aufsuchen, die einen inspirieren. Und dann: Einfach fragen!