Vivien Schiller ist als IT Security Expert bei der adesso SE in Dortmund tätig. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der Human Centered Security, in der die Nutzenden und Entwickelnden im Vordergrund der IT-Sicherheit stehen. Sie ist auf die Sicherheit von Webanwendungen spezialisiert, gibt Schulungen im Bereich Kryptographie und beschäftigt sich mit Security Awareness Maßnahmen innerhalb der adesso SE. Zudem leitet sie die „She for IT“ Initiative, moderiert den gleichnamigen Podcast und setzt sich für mehr Diversität in der IT Branche ein. Mit ihr sprachen wir über ihren Weg als Frau in die IT, ihre zahlreichen Projekte bei adesso und darüber hinaus sowie ihr vielfältiges Engagement, die Vielfalt der IT sichtbar zu machen.
Auch wenn es ein Stück weit ein Klischee ist, aber: Frauen haben in IT bekanntlich einen gewissen Seltenheitswert. Statistisch lag der Frauenanteil im Jahr 2021 zumindest nur bei 18 Prozent. Warum hast Du Dich für den Bereich IT entschieden?
Vivien: Da ist die Frage: Wie viel Zeit hast Du? Aber ich versuche mich mal kurz zu fassen. Eigentlich habe ich mich nicht aktiv für die IT entschieden. Ich habe mein Abitur auf dem Wirtschaftsgymnasium gemacht – auf dem Berufskolleg, um genau zu sein – und hatte als Hauptfach BWL und Mathematik. Als ich mich dann gefragt habe, was ich studieren soll, dachte ich mir, dass ich in Mathe und BWL immer sehr gut war, also studiere ich Wirtschaftsmathematik. Nach dem zweiten oder dritten Semester dachte ich mir dann, dass arbeiten neben dem Studium eigentlich auch ganz gut wäre. In der Wirtschaftsmathematik ist es eigentlich so, dass man automatisch entweder in die Versicherungs- oder die Bankenbranche geht. Da hatte ich allerdings keine Lust drauf und habe gesehen, dass ein kleiner Prozentsatz von Studierenden in die IT geht. Darum habe ich mich in Dortmund nach IT-Unternehmen umgeschaut und bin dann bei adesso gelandet. Dort habe ich zunächst als Werkstudierende bzw. als Software-Testerin angefangen und habe mir das wirklich sehr abstrakt vorgestellt, weil ich keine Ahnung hatte, worum es dabei wirklich geht. Auch wenn es erst einmal nicht so schwierig klang, dachte ich, dass da doch noch irgendwas mit Zauberei dahinterstecken muss. Im Endeffekt war aber mein Job wirklich „nur“, mich durch eine Webseite zu klicken und zu schauen, ob der Dinge wie der Vor- und Zurück-Button funktionierten. Es war also gar nicht so abstrakt.
Allerdings habe ich mich dann schnell gelangweilt. Mich irgendwo durchzuklicken, war einfach nicht so meins. Dann habe ich aber gesehen, was die Jungs so machen – dazu muss man kurz sagen, dass ich anfangs in einem reinen Männerteam gearbeitet habe. Die haben Software entwickelt und umgesetzt, also etwas gemacht, wo man direkt ein Ergebnis der eigenen Arbeit sehe konnte. Das fand ich cool und wollte auch programmieren lernen. Und so habe ich mich entschlossen, auch noch Informatik zu studieren und bin in die Softwareentwicklung gegangen. Was mir sehr geholfen hat, war, dass meine Kollegen mich auch ermutigt haben, das Informatikstudium aufzugreifen. Auch wenn ich heute keinem dazu raten kann, zwei Studiengänge gleichzeitig zu machen, habe ich dann beide Bachelor-Studiengänge zu Ende geführt und parallel noch bei adesso gearbeitet.
Wie verlief dann Dein Weg in den Bereich der IT-Sicherheit und welche Erfahrungen hast Du dabei gemacht?
Vivien: Obwohl ich damals schon dachte, dass das alles schon etwas viel war, wollte ich die Mathematik nicht liegen lassen – und wenn man Mathematik und Informatik miteinander kombiniert, kommt man irgendwann bei der Kryptografie und der IT-Sicherheit raus. Hinzu kam, dass das mit der IT-Sicherheit damals viele nicht auf dem Schirm hatten.
Also habe ich das Masterstudium in IT-Sicherheit angeschlossen und konnte mich bei adesso in dem Bereich einbringen, in dem ich nun bis heute arbeite.
Du hast erwähnt, dass Du am Anfang in einem reinen Männer-Team warst. Inzwischen hat sich bei Adesso diesbezüglich einiges verändert – unter anderem, weil das Projekt She for IT ins Leben gerufen wurde. Was waren die Beweggründe dafür? Welche Ziele verfolgt ihr damit? Und was ist Deine Rolle bei der Initiative?
Vivien: Ich habe die Initiative mitgegründet, als ich noch Studentin war und habe auch seither die Projektleitung übernommen. Ich fand es immer schade, dass ich allein unter Männern war. Gleichzeitig wollte mich immer mit anderen Frauen in der IT vernetzen und hatte häufig das Gefühl, dass es bei der ein oder anderen Sache hilfreich gewesen wäre, sich mit anderen Frauen auszutauschen. Man muss es so sagen, dass man doch immer wieder mal an den ein oder anderen chauvinistischen Kerl kommt, und sich fragt, ob ein Witz jetzt schon über eine Grenze geht oder man bei einer Bemerkung überreagiert, wenn man jetzt was sagt. Dann hatte ich die Idee für das Projekt und bin damit einfach zum Vorstand gegangen und habe gefragt, ob wir so etwas nicht auch machen können. Anschließend bin ich noch zu der HR-Leiterin, die die Idee auch super fand, und dann ging es schon los. Jetzt gibt es das Projekt schon drei Jahre.
Es war auch einfach der richtige Zeitpunkt im Unternehmen. Ich habe schnell eine andere Kollegin gefunden, die das Thema auch vorantreiben wollte. Dann saßen wir in den ersten Workshops und es wurde immer größer. Da ich es allein nicht geschafft habe, hat bald meine Kollegin Dr. Angela Carell mitgemacht, mit der ich mich gut verstanden habe. Da wir zwei unterschiedlichen Generationen angehören, brachte sie ganz andere Erfahrung mit ein und wir konnten gegenseitig voneinander lernen.
Das war sicher eine aufregende Zeit. Was waren die ersten Projekte oder die ersten Meilensteine?
Vivien: Der richtig große Meilenstein war unsere Female Employee Journey. Wir haben vorher viele Einzelmaßnahmen ergriffen, die wir auch immer noch anbieten, aber das große Bild mit Rahmen fehlte noch. Da Corona uns auch ein wenig gebremst hat, haben wir uns in dieser Zeit intensiv an unsere Employee Journey gearbeitet und gefragt: An welchen Stationen gehen unsere Frauen im Unternehmen entlang und wo sind eventuell Stolpersteine? Wo haben wir Stärken? Wo haben wir Schwächen? Was können wir ad hoc umsetzen? Wofür brauchen wir Management-Unterstützung? Wir haben aufgeschrieben, was wir haben und was wir noch wollen. Am Ende haben wir all das noch als Webseite zur Verfügung gestellt. Parallel haben wir dann noch den Podcast gestartet, mit dem wir Frauen in der IT eine Plattform bieten wollen und sie zu Themen wie Forschung, zu Unconscious Bias, zu Leadership oder Nachwuchs befragen und um Aufmerksamkeit für diese Themen zu schaffen.
Dabei ist eines Eurer zentralen Anliegen, Klischees aufzubrechen und neue Wege aufzuzeigen. Welche Klischees treffen Deiner Meinung nach heute nicht (mehr) zu? Oder gibt es vielleicht ein Klischee, das Dich besonders nervt, weil es Dir immer wieder begegnet?
Vivien: Ich bin da mittlerweile sehr sensibel geworden, weil wir uns viel mit der Forschung beschäftigt haben. Und was mich persönlich total stört, wenn ich mir Serien anschaue und da immer noch der IT-Nerd sitzt. Hollywood bedient sich ja gerne der Klischees und dann denke ich mir, dass ich davon ja auch nicht befreit war. Mir kam es zum Beispiel von allein nicht in den Sinn Informatik zu studieren. Es lang einfach außerhalb meiner Vorstellungskraft. Dadurch, dass ich das Erlebnis selbst durchgemacht habe, bin ich sehr sensibel geworden. Wenn ich so etwas sehe, denke ich mir: Wenn das nächste Mädchen das sieht, denk sie auch wieder, dass nur Männer das können.
Viele Initiativen setzen zum Glück inzwischen etwas dagegen. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch Non-Profit-Organisationen wie die Hacker-School, die eine Girls-Hacker-School anbieten, wo man auch als Mädchen den Mut hat, einen Programmier-Kurs zu machen, oder wo sogar die Mutter ganz neu auf die IT schaut und zusammen mit der Tochter programmieren lernt. Das finde ich großartig.
Du hast bereits Euren Podcast „She for what? She for IT?” erwähnt, der ein wichtiger Teil der Initiative ist. Mit dem Podcast verfolgt ihr das Anliegen, die Vielfalt der IT zu zeigen. Du bist eine von drei Gastgeberinnen und ihr stellt zu Beginn stets eine Standard-Frage, die ich heute gerne auch mal an Dich richten möchte: Wann hast Du Deinem ersten Rechner bekommen?
Vivien: Eine gute Frage und gut, dass ich sie auch mal selbst beantworten darf. Meinen ersten eigenen Rechner haben mir meine Eltern zum Studium geschenkt. Das war etwas ganz Besonderes, denn das war bei uns keine Selbstverständlichkeit. Dazu muss ich sagen, dass ich keine Akademikereltern habe, da war so ein Geschenk etwas ganz Besonderes. Meine Eltern waren so stolz darauf, dass ich angefangen habe zu studieren und darum war ich auch die Erste in unserer Familie, die so etwas bekommen hat. Davor hatten wir einen Familienrechner, den wir uns alle geteilt haben. Ein eigener Rechner war im Studium dann schon sehr praktisch.
Wann gibt es Euren Podcast immer zu hören?
Vivien: Als wir den Podcast gestartet haben, haben wir gesagt, dass wir eine Folge im Monat machen wollen. Heute sind wir schon bei zweimal im Monat. Wir haben so viele tolle Interview-Partnerinnen – sowohl intern als auch extern – und wollen uns auch weiter vernetzen. Aber auch innerhalb unseres Unternehmens haben so viele Frauen, die wir vorstellen wollen, sodass wir unsere Taktung erhöht haben.
Eine andere Auskopplung der She-for-IT-Initiative, die Du ebenfalls schon kurz erwähnt hattest, ist die Female Employee Journey. Worum handelt es sich dabei, was war die Grundidee und wie entstand die dazugehörige Seite?
Vivien: Wir haben uns gefragt: Wo gehen die Frauen in unserem Unternehmen hin und welchen Weg gehen sie eigentlich? Dann haben wir Personas kreiert, und zwar drei an der Zahl: eine Führungskraft, eine Fachkraft und eine Studentin. Für alle drei haben wir überlegt, wie es vom Moment, an dem sie auf uns aufmerksam werden – über den Bewerbungsprozess bis hin zu dem Moment, wo sie Adesso wieder verlässt – abläuft und welche Stationen sie durchlaufen. Wo liegen dabei unsere Stärken und wo unsere Schwächen? Wo können wir uns als Unternehmen verbessern und wo können wir punkten? Da haben wir uns intensiv mit Workshops beschäftigt, bei denen auch unser Vorstand mitgearbeitet hat. Am Ende haben wir daraus neue Maßnahmen abgeleitet und als wir das Ergebnis gesehen haben, mit dem wir uns zunächst selbst challengen wollten, dachten wir, dass wir das unbedingt auch unseren Mitarbeitenden zur Verfügung stellen sollten. Darum haben wir einmal alles für unser internes Extrablatt, das einmal im Jahr erscheint, abgedruckt. Wir wollten die Journey aber auch erlebbar machen – wir sind schließlich ein Digital-Unternehmen – da kann man das nicht nur auf Papier machen. Insbesondere meine Kollegin hat sich da drangesetzt, da ich zu dieser Zeit im Mutterschutz war.
Welche Rückmeldung erhaltet ihr von den Mitarbeiterinnen bzw. was sind die Erfahrungen, die Mitarbeiterinnen mit der Female Employee Journey machen?
Vivien: Auf das Ergebnis sind wir sehr stolz, weil man nicht nur sehen kann, welche Stationen es auf der Journey gibt, sondern auch zeigt, wo kann man sich informieren und wo man sich engagieren kann und all das erlebbar macht. Alle Fotos, die dort zu sehen sind, sind übrigens Fotos von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wir wollten sie da in den Vordergrund stellen. Und ich finde, dass die ganz toll geworden sind.
Was sind bislang die zentralen Learnings? Was müssen Arbeitgeber*innen tun, damit mehr Frauen sich für Stellen in der IT interessieren und damit sich Frauen auf ihrer Employee Journey wohlfühlen?
Vivien: Was diese Frage betrifft, habe ich beim Weltfrauentag eine wunderbare Zusammenfassung von der Initiative „She Transforms IT“ gehört, mit der wir auch im Austausch stehen und die das perfekt auf den Punkt bringt: Es braucht:
- Jobsharing in Führung in Teilzeit
- Mentoring und Coaching für Frauen
- Spezielles Recruiting und Einstellungsangebote für Frauen
- Aktives Fördern von internen und externen Frauennetzwerken
- Diversity- und Gender-Bias-Training für Führungskräfte (Ein ganz wichtiger Punkt und ein wichtiges Learning für uns)
- Role Models ausbilden und diese online sichtbar machen
- Kooperationen mit Schulen und Hochschulen
- Externes Wissen nutzen und verfügbar machen
- Feste Zielgrößen für Frauen und
- Unterstützung für Familien
Das sind genau die zehn Kernelemente, die man angehen muss.
Was ist für die Zukunft geplant? Gibt es noch weitere Events oder Aktionen, die im Zuge der Initiative geplant sind und von denen wir schon wissen dürfen?
Vivien: Es gibt da zum Beispiel den „Diversity Lunch Talk“, den wir auch im Rahmen des letzten Weltfrauentages extern zur Verfügung gestellt haben, sodass auch Externe daran teilnehmen konnten. Dann steht ein Event mit GDW am 10. Mai an, bei dem wir über Daten-Diversität sprechen. Da gibt es coole Projekte, die etwas Ähnliches untersuchen wie das Buch „Unsichtbare Frauen“ im Bereich der Medizin nur bezogen auf Daten und die IT.
Jetzt, wo Corona vorbei ist, werden wir auf jeden Fall wieder mehr Netzwerkveranstaltungen durchführen. Wenn man sich persönlich trifft, geht das Netzwerken etwas besser.
Auf welche Erfolge, die die Initiative erzielt hat, bist Du besonders stolz?
Vivien: Inzwischen ist unsere Initiative auch weitergewachsen. Zwei Kolleginnen und ich haben uns zusammengetan und haben uns gefragt, wie wir mehr Mädchen für die IT begeistern können, was auch ein spezielles Herzensthema von mir ist. Gemeinsam wollen wir im Rahmen des „Project Y“ die Vielfalt von IT-Berufen zeigen und diese Mädchen näherbringen. Als wir uns gefragt haben, wo wir die Mädchen am ehesten erreichen können, war schnell klar, dass wir in die Schulen müssen. Und da man nicht nur Programmierkurse machen kann – Das ist zwar auch wichtig, aber die IT ist ja um einiges vielfältiger. Es gibt schließlich nicht nur Programmiererinnen, sondern auch SCRUM-Master, Testing-Leute, Product-Owner, Product-Manager und viele weitere Rollen mehr. Darum dachten wir uns, dass wir ein Jahresprogramm machen, bei dem die Schülerinnen die Idee für eine App entwickeln, und so nach und nach immer einen Beruf kennenlernen. Dann geht es vom Design Thinking zur Projektleitung, darüber, welche Anforderungen man braucht, im Modul für Entwicklung werden auch die Grundlagen des Programmierens erklärt, und schließlich das Testing und nicht zuletzt auch der Aspekt der IT-Security. Auf diese Weise begleitet man ein ganzes Schuljahr und kann die Vielfalt der IT aufzeigen. Wir hoffen, dass dadurch klar wird, es eben nicht nur den „IT-Nerd“ braucht, sondern, dass alle bei der Digitalisierung mitwirken können. Das Konzept, das wir uns so überlegt haben, wird gerade auch schon an einer Schule in Dortmund pilotiert, und wir sind schon gespannt, ob sich noch mehr Schulen melden, die daran interessiert sind.
Zum Abschluss noch die Frage: Welche Botschaft möchtest Du jungen Frauen mit auf den Weg geben, die sich für IT interessieren?
Vivien: Erst einmal fände ich es dann schön, wenn sie sich schon für die IT interessieren würden und sie sich damit schon gedanklich angefreundet haben. Dann würde ich ihnen raten: Lasst euch nicht unterkriegen und zieht es durch. Ich hatte die Unterstützung meiner männlichen Kollegen, die gesagt haben: Du kannst das! Darum: Sucht euch Unterstützer*innen! Auch Mentoring ist eine gute Sache. Ich habe leider auch dumme Sprüche hören müssen, wo man sich ein dickeres Fell zulegen muss. Das ist schade, denn es bedeutet, dass man sich als Frau mehr anstrengen muss. Die Jungs mussten sich das nämlich nicht anhören. Davon sollte man sich aber auf keinen Fall unterkriegen lassen.
Was ich sehr motivierend fand: Es gibt eine Studie über Frauen, die ein Informatikstudium begonnen haben, und nicht so viele Vorkenntnisse hatten wie Männer. Am Ende hatten sie aber die besseren Abschlüsse. Sie haben nicht nur alles aufgeholt, sondern waren am Ende sogar besser. Zur Wahrheit gehört auch: Viele haben auch abgebrochen, weil sie dem Druck nicht standhalten konnte. Diejenigen, die es geschafft haben, sind aber besser. Und wenn sie es geschafft haben, dann steht ihnen die Welt offen. Denn in der IT wird händeringend nach Frauen gesucht. Und bessere Job-Möglichkeiten als in der IT – und ich möchte hinzufügen: ganz besonders in der IT-Sicherheit – gibt es in den kommenden Jahren nicht.